Kraft des Zweifelns

Gilt unser Wissen nur relativ zu unseren Bezugssystemen?
Systemisches Denken hinterfragt die gewohnten Weisen, die Welt zu sehen. Getragen von der Einsicht, dass all unser Wissen nur relativ zu unseren Bezugssystemen gilt, stellte systemisches Denken tradierte Gewissheiten in Wissenschaft, Gesellschaft und alltäglichem Handeln in Frage. So lädt systemische Theorie zur Skepsis gegenüber vermeintlich sicherem Wissen ein und zeigt zugleich, dass eine solche Haltung mit einer gelingenden Handlungspraxis einhergehen kann.

Am pointiertesten zeigte sich der Unterschied zu anderen Positionen in den 1980er-Jahren im Umgang mit psychischen Abweichungen. Heftig wurde darüber gestritten, ob es sinnvoll ist, diese als „krank“ zu bezeichnen. Heute sind diese Debatten verstummt. Die kritische, selbstreflexive Haltung ist aus dem Denken weitgehend verschwunden, gesellschaftliche Reflexionssperren greifen um sich. Sie verhindern das Weiterdenken, weil sie mit Begriffen operieren, die man nicht mehr zu hinterfragen wagt: „Diagnose“, „Erfolg“, „Defizit“, „Gewinn“, „Effizienz“, „Evidenz“ und viele mehr.

Auch Forschungsprogramme sind von solchen, oft aus ökonomischen Kontexten übernommenen Leitbegriffen bestimmt; sie definieren den Raum dessen, was durch sie begriffen und erklärt werden kann. Mit normativer Kraft werden die so gewonnenen Erkenntnisse in Lehrkanons und Lehrbücher eingeschrieben und erhalten damit den Status zweifelsfreien, i.e. sicheren Wissens.

Kaum merklich werden auf diese Weise die Denk- und Handlungsräume kleiner, in denen wir uns bewegen. So wird beispielsweise die Existenz psychischer Krankheiten als nicht mehr zu hinterfragendes Faktum gesehen, es wird eher danach geforscht, wo im Gehirn sie genau zu lokalisieren sind. Ebenso unmerklich gerät der Begriff „systemisch“ – auch durch seine Inflationierung – in diese unhinterfragbaren Sphären. Organisationsberatungen haben längst bemerkt, wie gut sich der Zusatz „systemisch“ verkauft. Inzwischen wurde auch der Systemischen Therapie das Etikett der „wissenschaftlich anerkannten“ Wirksamkeit verliehen. Wird das dazu führen, dass allein der Verweis auf „abgesicherte“ Methodik ein Nachfragen erübrigt? Wird systemische Praxis zukünftig nur noch in festgelegten Curricula gelehrt, die ausschließlich „evidenzbasierte“ Methoden zulassen? Wird es der systemischen Therapie ähnlich ergehen wie der Verhaltenstherapie, die in den 1960er und 70er Jahren einmal mit einem sozialwissenschaftlichen Modell psychischer Störungen angetreten war, von dem heute aber keiner mehr spricht?

Wissenschaftliche Leitung: Hans Rudi Fischer, Ulrike Borst und Arist von Schlippe