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Unsicherheit, Freiheit und Verantwortung

Während mit dem Kongressthema ein Plädoyer für die „die Kraft des Zweifelns“ gehalten wird, finden in unserer Gesellschaft zunehmend die entgegengesetzten Kräfte Beachtung: Selbsternannte Gurus versammeln wie die Rattenfänger verunsicherte Menschenmengen um sich, indem sie Ihnen letzte Wahrheiten verkünden, die es nicht zu bezweifeln gilt – sei es hinsichtlich nationalistischer „Werte“ und Egoismen, sei es über die angebliche „Alternativlosigkeit“ zahlreicher politischer Entscheidungen, sei es über den „Nutzen“ undemokratischer Geheimverhandlungen der TTIP Hinterzimmerpolitik, oder sei um die ebenso geheimen Verhandlungen über die „Wissenschaftlichkeit“ oder die „Wirksamkeit“ mancher wissenschaftlicher Ansätze in der Psychotherapie betrieben durch Ausschüsse und Beiräte die von der Konkurrenz dominiert sind. Diskursivität – ein zentraler Grundpfeiler von Demokratie und Wissenschaft – wird so ausgehöhlt, wenn nicht gar durch Verweis auf unbezweifelbare Wahrheiten diskreditiert.

Für die Mitläufer und Empfänger solcher Botschaften zur Eliminierung des Zweifels scheint der Vorteil vor allem in der vordergründigen Zurückgewinnung von Sicherheit und Verlässlichkeit zu liegen. Für die Erfinder und Betreiber von „objektiven Wahrheiten“ liegt der Vorteil darin, dass man für die Unterdrückung anderer Sichtweisen und ihrer Vertreter scheinbar keine Verantwortung übernehmen muss. Es werden ja nur scheinbar unhinterfragbare Fakten offenbart oder ebensolche Methoden angewendet. Die Täter können sich hinter Objektivität und Wahrheit verbergen.
Die Zusammengehörigkeit der Trias „Unsicherheit“, „Freiheit“ und „Verantwortung“ ist in der Philosophie seit langem und aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und analysiert worden (z.B. von Lévinas). Für die systemische Theorie und Praxis ist sie aus einem anderen Grunde essentiell: sie ergibt sich nämlich aus dem Verständnis, dass Strukturen – im Bereich des Menschlichen als „Symptome“, „Probleme“ etc. bezeichnet – einen Ordnungs-Ordnungs-Übergang durchlaufen müssen, um sich an neue Bedingungen und Herausforderungen („Entwicklungsbedingungen“) zu adaptieren. Denn meist können „maligne Strukturen“ als gute aber überstabile Lösungen für Konstellationen gesehen werden, die sich längst verändert haben.

Die Destabilisierung überstabiler Sinnstrukturen, welche „die Welt“ zu rigide, zu reduziert, zu veränderungsresistent erscheinen lassen, ist daher der Kern faktisch aller Interventions-strategien in der systemischen Therapie und im systemischen Coaching. Es wird quasi die „Kraft des Zweifelns“ durch Verunsicherung des vermeintlich Sicheren eingesetzt. Damit sich Menschen freilich auf einen solchen Prozess einlassen, bedarf es einer klaren, stabilen und vertrauensvollen Rahmung. Denn die gewonnene Freiheit zu mehr Alternativen wird nicht immer und nicht ausschließlich sofort als positiv erlebt; die damit verbundene Verantwortung für die Wahl der Alternativen lässt neben der vertrauten „Opfer“-Rolle nun auch klar die „Täter“-Rolle deutlich werden.
Diesen Zusammenhängen widmet sich der Vortrag.