I. Sektion

Von der Gefahr der Gewissheit
zur Kühnheit des Zweifelns


Sektion I
Chair: Prof. Josef Mitterer
Datum: Donnerstag, 13. Oktober 2016
Uhrzeit: 14:30 – 15:00 Uhr

Impulsvortrag I: Die Gefahr der Gewissheit

Prof. Dr. Berhard Pörksen

Abstract
Wie viel Wahrheit braucht der Mensch? Wann sind Gewissheiten nützlich, wann schädlich? Wann wird der Glaube an das Absolute dogmatisch und zur Rechtfertigung eines gefährlichen Totalitarismus? Und wie kann aus den großen und kleinen Kämpfen um das Rechthaben wechselseitiges Verstehen und Verständnis werden? Es sind diese Fragen, die der Tübinger Medienwissenschaftler in seinem Vortrag beleuchtet. Er zeigt, wie Wahrheitsillusionen entstehen, lässt uns über die Geschichten spektakulärer Fälschungen in Wissenschaft und Medienwelt schmunzeln, entwirft eine Anleitung zum Andersdenken – und vertritt die These: Wahrheits- und Erkenntnistheorien prinzipieller Natur (ganz gleich, ob sie sich als realistisch oder konstruktivistisch begreifen) sind nicht ausreichend alltags- und praxistauglich: Sie sind in ihrer grundsätzlich gemeinten Beantwortung der Erkenntnisfrage, so Pörksen, nicht elastisch genug für das lebenspraktisch und situativ Geforderte. Wir brauchen nicht Realismus oder Konstruktivismus, sondern einen Situationismus der Erkenntnispraxis, der mal den Zweifel fördert, dann wieder entschieden für die eigene Position und Wahrheit streitet.

Impulsvortrag II: Zur Kühnheit des Zweifelns

Jonathan Rée

Abstract
Der intellektuelle Prozess, so denkt man, führt vom Zweifel zur Gewissheit, aber ich werde dagegenhalten, dass wir es umgekehrt betrachten sollten. Kant formulierte das Motto der Aufklärung: sapere aude! ‘Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen’, doch vielleicht sollten wir stattdessen dubitare aude! ‘Habe Mut zu zweifeln’ vorziehen. Im ersten Teil werde ich auf verschiedene Arten des Wagnis Zweifel eingehen: der Zweifel, der dem klassischen Skeptizismus (Sokrates) zuzuordnen ist; der Zweifel, der dem Bereich der Naturwissenschaften (Descartes) und dem Neoskeptizismus (Montaigne) entspringt, und schlieβlich werde ich mich auf den Zweifel beziehen, den Kierkegaard in seiner Schrift „De omnibus dubitandum est“ entwickelt. Im zweiten Teil werde ich die Vorteil e des Zweifelns für veschiedene Bereiche beleuchten: (a) die Vermeidung von Dogmatismus in der Wissenschaft, (b)die Vermeidung eines endgültigen Abschlusses in persönlichen und therapeutischen Beziehungen , (c) die Vermeidung von Sentimentalität und Nostalgie in der Politik.