Volkmar Aderhold

Dr. med. Volkmar Aderhold, Greifswald


Zur Person
Jahrgang 1954, Dr. med., Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin, Lehrender für Systemische Therapie und Beratung (DGSF) arbeitet seit 1982 in der Psychiatrie. 10 Jahre Oberarzt im der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf Aktuell Mitarbeiter der Instituts für Sozialpsychiatrie an der Universität Greifswald. Aktuell freiberuflich: Qualifizierungsmaßnahmen zum „Offenen Dialog“, Vorträge und Beratung von psychiatrischen Organisationen bei der Strukturentwicklung.

Aktuelle Publikationen (Auswahl)
Aderhold V. & Borst U: (2016) „Stimmenhören Lernen“ – Qualifizierung für systemische Arbeiten in der psychiatrischen Grundversorgung, Familiendynamik, 1, 34-43.

Aderhold V. (2016) Neuroleptika minimal – warum und wie, in: Merod, R. (Hrsg.) Psychotherapie und Psychopharmaka in der Behandlung von Menschen mit schizophrenen Psychosen. Tübingen: DGVT Verlag.

Aderhold V. (2016) Netzwerkgespräche als Offener Dialog, In: Zinkler M., Laupichler K., Osterfeld M. Prävention von Zwangsmassnahmen – Menschenrechte in therapeutische Kulturen in der Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie Verlag.

Aderhold V (2016) Bedürfnisangepasste Behandlung und offener Dialog. Soziale Psychiatrie, 40, 2, 25-30.

Vortrag im Rahmen der Sektion „Das (Un-)Wesen psychischer Krankheiten“
Titel: Über den aktuellen Zerfall von Krankheitskonstruktionen und dem phänomenalen Nutzen der Konstruktionslücke
Datum: Freitag, 14. Oktober 2016
Uhrzeit: Zwischen 16.30 und 18.30 Uhr (genauere Angaben folgen)

Abstract
Psychische Erkrankungen und ihre diagnostischen Einteilungen sind fach-gesellschaftliche Konstruktionen. Problematische Aspekte sind: Dimensionalen Verteilung der Phänomene mit willkürlicher Grenzziehung bei den Diagnosen. Clustern von Phänomenen (Symptomen). Ursachen, Kontext, kulturellen Faktoren, interaktionelle Faktoren bleiben unberücksichtigt. Trotz verbesserte Zuverlässigkeit (Reliabilität) und internationale Vergleichbarkeit von Diagnosen (ICD 10 und DSM IV) hohe „Komorbidität“ und häufige Diagnosenwechsel bei der alltäglichen Diagnosestellung, ausgeprägte Beobachterabhängigkeit. Fortbestehende Heterogenität und erhebliche Verlaufsunterschiede innerhalb der Syndrome. Individuelle Prognosen sind nicht möglich. Kaum Validität (Gültigkeit/Sinnhaftigkeit) der diagnostischen Konstrukte, anlog einer Einteilung unterschiedlicher Formen des Brustschmerzes in Krankheitsdiagnosen ohne Ursachenzuordnung.
Ätiologieunabhängigkeit der Diagnosen, die eine „Biologisierung“ und „Genetisierung“ der impliziten Krankheitstheorien fördert und damit primär medikamentösen Behandlungen Vorschub leistet. Misslingen einer Zuordnung von biologischen Phänomenen (Biomarkern) zur Absicherung von Diagnosen. Genetische und neurobiologische Befunde treffen entweder auf mehrere diagnostische Kategorien oder nur auf Subsyndrome zu. Somatische/neurobiologische Korrelate, sofern solche überhaupt existieren, können die Kausalitätsfrage nicht beantworten. Keine kausale (Er-)Klärung der Krankheitsentstehung in Einzelfall. Keine echten, therapierelevanten Fortschritte in der Genetik bis heute.

Das Ausmaß der Stigmatisierung psychischer „Erkrankungen“ wurde durch ihre Biologisierung nicht vermindert. Biologischer Erklärungsmodelle scheinen sogar die soziale Stigmatisierung zu erhöhen. Große historische Veränderungen der diagnostischen Kategorien und Kriterien innerhalb der Cluster. Definition diagnostischer Cluster nur selten aufgrund von wissenschaftlicher Evidenz, sondern oft interessengeleitet. Entscheidungen der Gremien durch Mehrheitsabstimmungen. Erhebliche Zuwendungen der Pharmaindustrie für diese „Experten“. Viele diagnostische Cluster dienen den Vermarktungsinteressen der Pharmaindustrie. Syndrome werden so definiert, dass sie spezifischen pharmakologischen Interventionen zugänglich werden, dazu „verführen“. Das DSM V wurde gleich nach dem Erscheinen von dem Direktor des NIMH T. Insel als ein Sammelsurium von Symptombeschreibungen, die nicht valide sind, zurückgewiesen. Ein neues Diagnosesystem ist nicht in Sicht. Lediglich für die Grundlagenwissenschaft wurde ein neues Ordnungssystem mit sehr basalen sog. Research domain Criteria (RDoC) entwickelt. Dieses System ist vollkommen unbeeinflusst von bestehenden diagnostischen Kategorien, sondern geht von den funktionellen neuronalen Teilsystemen des gesunden Gehirns aus. Es geht dabei um eine fundamentale Rekonzeptualisierung der Psychiatrie, aus neurobiologischer Sicht. Dies wird viele Jahre bis Jahrzehnte dauern. Sofern es überhaupt gelingt. Das Gebäude psychischer Erkrankungen wird also nur noch notdürftig von einem Gerüst aus diagnostischen und pharmakologischen Gewohnheiten zusammengehalten.

Die Darstellung der Dekonstruktion von „invaliden“ Krankheitskonstruktionen soll ermutigen. Dieser Diagnostik sollte man unverfroren(er) gegenübertreten. Auch im Bereich psycho-sozial-spirituellen Verstehens besteht das gleiche Recht auf Neuentwicklung von diagnostischen Verstehensansätzen. Dabei wären die Kontext-, Beobachter- und interaktionelle Abhängigkeit psychischer Phänomene konsequent zu berücksichtigen.

– Beschreibung der erlebten Phänomene (evtl. Zuordnung zu den RDoC)
– Kontextualisierung dieser Phänomene
– Selbstlimitierung von episodischen Phänomenen erfassen
– Rekonstruktion von bedeutsamen Lebensereignisse, Lebensbedingungen
– Diskurs der wichtigen Bezugspersonen dazu, wenn möglich
– Recht auf Selbstbeschreibung der Veränderung bzw. Krise durch den Betroffenen
– Erfassung von Ressourcen