Von der (Re-) Sozialisierung von Normalität
und Abweichung
Keynote
Referent: Prof. Dr. Heiner Keupp
Datum: Freitag, 14. Oktober 2016
Uhrzeit: 12.15 – 13.00 Uhr
Abstract
Die Debatte um Medikalisierung, Klinifizierung oder Psychiatrisierung hat die 70er und 80er Jahre die Reformbewegung in der psychosozialen Szene geprägt. Es war ein Aufbruch zu einem neuen Verständnis psychischen Leids und es war ein Ausbruch aus dem paradigmatischen Gehäuse des „medizinischen Modells“. Es wurde als ein „stahlhartes Gehäuse“ im Sinne Max Webers verstanden, das irritierendes und verstörendes Erleben und Verhalten bio-medizinisch zu erklären versuchte und damit aus dem Leben- und Erlebniszusammenhang herauslöste.
Da aber die Evidenzen uns so klar erschienen, dass die Belastungen und Verstörungen, die Menschen erleben und erleiden mit den Anforderungen und Herausforderungen der kapitalistischen Gesellschaft ursächlich verknüpft sind, mussten alternative Sichtweisen entwickelt werden. Und wir waren davon überzeugt, dass ein Krankheitsmodell, das solche Zusammenhänge nicht thematisiert, eine Komplizenschaft mit einem Gesellschaftssystem eingeht, das Menschen ausbeutet und entfremdende Lebensverhältnisse aufzwingt. Diese professionelle Komplizenschaft mit dem spätkapitalistischen System von Ausbeutung und Herrschaft sollte radikal aufgekündigt werden. Es bestand die gemeinsame Überzeugung, dass eine repressive und auf Klassenunterschieden beruhende Gesellschaft Menschen psychisch und gesundheitlich verkrüppeln muss. In den sozialepidemiologischen Befunden haben wir einen Beleg für das gesehen, was wir als „Klassengesellschaft“ zu benennen gelernt hatten.
Am meisten hat mich die Tatsache empört, dass die Gruppen in der Bevölkerung, die per saldo die höchsten Belastungen mit psychischem Leid erfahren, die schlechtesten Chancen auf adäquate Hilfeformen hatten. Diese Befunde zeigten in harten Zahlen das auf, was Christian von Ferber (1971) die „gesundheitspolitische Hypothek der Klassen-gesellschaft“ genannt hat. Nur einbettet in diesen intensiven fachlichen und politischen Kampf um eine angemessene Sicht auf psychosoziales Leid wird verständlich, wie leidenschaftlich die Kontroverse um das „medizinische Modell“ geführt wurde. Die Zeiten lebhafter Kontroversen und die aufmüpfigen gesellschaftskritischen Positionierungen sind nicht nur vorbei, es hat auch ein echtes roll back gegeben. Psychotherapie und Klinische Psychologie sind ganz im Fahrwasser der Medikalisierung und Biologisierung angekommen.
Auf diesem Hintergrund ist die „alte Debatte“ wiederzubeleben und zu fragen, wie wir die „Gesellschaftsvergessenheit“ in den PSY-Professionen überwinden können.