Keynote Straub

Ist der Geist ein Gespinst von Geschichten?


Keynote
Referent: Prof. Dr. Jürgen Straub
Datum: Donnerstag, 13. Oktober 2016
Uhrzeit: 17:15 – 18:15 Uhr

Abstract
Nachdem die Psychologie und andere ‚Gedächtniswissenschaften‘ viele Jahrzehnte lang die für viele Erfahrungen und Erinnerungen konstitutive Funktion des Erzählens ignoriert haben, gilt es in jüngerer Zeit als ausgemacht, dass speziell die zeitliche Dimension unseres Lebens ohne vielfältige Bezugnahmen auf narrative Praktiken nicht angemessen begriffen werden könnte. Wir alle leben unentwegt im Horizont von Geschichten. Menschen ‚verfügen‘ – ab einem bestimmten Entwicklungsstand, der bestimmte sprachliche Fähigkeiten als einen integralen Bestandteil des Orientierungs- und Handlungspotentials bereits von Kindern ausweist – über narrative Kompetenzen. Diese Kompetenzen – die eng mit einem praktischen Wissen und Können verwoben sind, also allenfalls teilweise mit einem expliziten Wissen einhergehen – gestatten es uns, die Welt und das Selbst als einen nicht zuletzt aus Geschichten gestrickten Verweisungs-, Bedeutungs- oder Sinnzusammenhang zu verstehen (und uns auf der Grundlage dieses Welt- und Selbstverständnisses zu orientieren und zu bewegen als mit „narrativer Intelligenz [Jerome Bruner] oder „phronetischer Vernunft“ [Paul Ricœur] ausgestattete Wesen). Erinnerte Erfahrungen und daraus erwachsende Erwartungen sind ohne die Praxis des Geschichtenerzählens nicht zu begreifen (weder konzeptuell noch phänomenologisch oder empirisch). Insofern kann man sagen: der Geist ist ein Gespinst von Geschichten. Narrativität ist ein Strukturmerkmal unserer Praxis. Sie ist zutiefst ins Selbst- und Weltverhältnis des Menschen als Geschichtenerzähler eingelassen.

So weit, so gut. Der Vortrag rekapituliert jedoch nicht allein diese heute konsensfähige, unlängst etwa von Jens Brockmeier umfassend bilanzierte Einsicht. Er fragt darüber hinaus nach Grenzen dieser Erkenntnis. Der Geist ist eben nicht nur ein narratives Bezugsgewebe, in dem sich menschliche Angelegenheiten auf einzigartige Weise zur Sprache bringen und reflektieren lassen. Er kennt auch andere modus operandi. Dazu gehören nicht nur weitere Weisen des Sprechens (bzw. der sprachlichen Bezugnahme, der verbalen Kommunikation etc.), sondern auch ‚gänzlich‘ andersartige symbolische Formen. Eine davon möchte ich genauer betrachten. Neben die Narrativität tritt die Ikonizität als ebenso basale und elementare Weise, in der Welt zu sein und sich zu ihr, zu den anderen und zu sich selbst zu verhalten. Unsere Praxis ist ikonisch vermittelt und strukturiert. Menschliche Kommunikation besteht zu einem nicht geringen Teil – gerade heute, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und Produzierbarkeit von Bildern – aus ikonischer Verständigung. Die Bilder selbst – ihre Produktion und Reproduktion, ihr Austausch bzw. der durch sie und mit ihnen bewerkstelligte Austausch – sind irreduzibel, auf kein anderes Medium zurückzuführen. Der Geist ist ein Gespinst aus Bildern. Warum das so ist und was das (für die sozialwissenschaftliche Forschung, auch im Feld der Psychotherapieforschung etwa, oder für die psychotherapeutische Praxis) bedeutet, soll im Vortrag erörtert werden.