Systemische Therapie – Haben wir uns zu Tode gesiegt?
Sektion III
Chair: Ulrike Borst
Datum: 14. Oktober 2016
Uhrzeit: 10.00-12.00 Uhr
Impulsvortrag I: Stimmen der Kriegsurenkel_Innen und Generation Y:
„Quo vadis Systemische Therapie und Beratung?“
Christina Hunger-Schoppe
Abstract
Wir, die “Kriegsurenkel“ oder auch „Generation Y“, sind diejenigen, die in den späten 70er bis frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts geboren sind. Wir werden als Menschen beschrieben, die sich etwas zutrauen und die das Gefühl haben, Teil einer ganz besonderen Geschichte zu sein. Manche bezeichnen uns auch als Traumtänzer. Insofern ist eine Kraft unseres Zweifelns sicherlich, dass sie uns stärker in der Gegenwart bindet.
Doch wie sieht die Gegenwart für uns mit Blick auf die Systemischen Therapie und Beratung aus? Welche Wirklichkeiten konstruieren wir? Machen sie uns eher glücklich oder unglücklich? Motivieren sie uns zu neuen Taten oder rufen sie Enttäuschungen hervor? Und was könnte der Nutzen sein, den wir daraus ziehen? Und was, wenn wir doch einen Blick in unsere und die von uns konstruierte Zukunft der Systemischen Therapie und Beratung wagen?
Der Beitrag will sich diesen Fragen widmen. Er will unsere Zweifel und die aus ihnen erwachsenden Hoffnungen und Wünsche an die Systemische Therapie und Beratung darstellen. Grundlage dieses Beitrags bilden einerseits Reflektionen der Referentin vor dem Hintergrund der sowohl gewünschten als auch befürchteten sozialrechtlichen Anerkennung und Präsenz der Systemischen Therapie und Beratung in der universitären Landschaft Deutschlands. Andererseits sollen Stimmen wissenschaftlicher MitarbeiterInnen, Promovierenden, Master- und Bachelorstudierenden vor allem aus dem Bereich der Psychologie zu Wort kommen.
Impulsvortrag II: Systemische Haltungen, Politische Positionierung und Politischer Aktivismus:
(Wie) past das zusammen?
Prof. Jochen Schweitzer-Reuthers
Abstract
Viele systemische Therapeuten waren oder sind aktiv in Bewegungen für soziale Veränderungen (oder unterstützen diese) in Feldern wie Menschenrechte, Ökologie, Gewaltfreiheit/ Frieden, soziale Gerechtigkeit.Politische Positionierung nimmt typischerweise eine „Entweder-Oder-Form“ an: Man ist „für Anliegen A“ oder „gegen Anliegen B“. Systemisches Denken hingegen legt oft eine ambivalente „sowohl- als-auch“-Positionierung nahe, die die guten Nebenwirkungen schlechter Entwicklungen und die schlechten Nebenwirkungen guter Entwicklungen anerkennt. Wenn nun systemische Therapeuten, sei es als einzelne oder kollektiv in Vereinigungen – sich gesellschaftspolitisch positionieren wollen, müssen sie irgendwie diese beiden Ansätze verbinden. Wie kann ein solcher Brückenschlage zwischen z.B. den Ideen von Gregory Bateson und Karl Marx, Niklas Luhman und Pierre Bourdieu, Gianfranco Cecchin oder Mahatma Ghandi theoretisch gelingen? Wie können wir (sofern wir dies wollen) konkret Ungerechtigkeiten und Unterdrückung kritisieren, politische Kampagnen gegen dominierende wirtschaftliche und politische Mächte unterstützen – und zugleich respektful mit unseren Gegnern und respektlos mit unseren eigenen Glaubenssätzen umgehen? Einige derzeit (Frühjahr 2016) aktuelle politische Debatten können die Chancen und Grenzen eines solchen Brückenschlages studieren helfen. Solche Themen könnten sein: „Willkommenskultur oder sichere Außengrenzen – Flüchtlinge in der EU“; „Würde in der Armut: kann ein bedingungsloses Grundeinkommen für jedefrau/ jedermann helfen?“ „Ungerechtigkeit in der EU: Der Fall von Griechenland und Deutschland“; „Systemische Coaches und Organisationsberater: können sie mehr Kollektivität, aufrechten Gang und Widerstand in der Arbeitswelt unterstützen?“ Fallilustrationen zu dieser Diskussion entnehme ich meiner eigenen Arbeit als Organisationsberater und als gesellschaftspolitischer Sprecher der DGSF.
Impulsvortrag III. Systemische Therapie, Evidenzbasierung und das deutsche Gesundheitssystem
Kirsten von Sydow
Abstract
Systemische Therapie ist (ST) nachweislich wirksam bei der Behandlung von affektiven, Angst-, Ess-, dissozialen, Substanzstörungen, Schizophrenie und bei somatischen Krankheiten – sowohl bei Erwachsenen, als auch bei Kindern und Jugendlichen. Auf diesem Hintergrund wurde die ST vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) wissenschaftlich anerkannt (was es überhaupt erst erlaubt hat ambulante systemische Psychotherapie zu praktizieren, zu beforschen und Approbationsausbildungen anzubieten). Derzeit wird die sozialrechtliche Anerkennung vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) und dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen geprüft. In beiden Prüfprozessen ist die Orientierung an klaren theoretischen Vorgaben und das Vorhandensein von empirischen Wirksamkeitsbelege zentral, besonders durch randomisierte kontrollierte Studien (RCT) zu unterschiedlichen Störungsbildern.
Doch die deutschen Systemiker stehen diesen Entwicklungen ambivalent gegenüber, manche freuen sich – andere lehnen eine stärkere Orientierung von systemischer Praxis und Lehre an Forschung, Diagnostik und eine stärkere Anbindung der systemischen Aus- und Weiterbildung an Hochschulen vehement ab. Gleichzeitig befindet sich das ganze Psychotherapie-Ausbildungs-System in Deutschland in einem fundamentalen Wandel an dem sich nur sehr wenige systemische Therapeuten/Wissenschaftler aktiv beteiligen.
Als Wissenschaftlerin und Therapeutin mit nicht nur systemischem Hintergrund bin ich naturgemäß Vertreterin der forschungsfreundlichen Fraktion und möchte darlegen, was die ST gewinnen kann durch eine stärkere Anbindung an Grundlagen- und Wirksamkeitsforschung, dass Diagnostik neben Nachteilen auch Vorteile haben kann und welche Risiken eine forschungsferne systemische Praxis und Ausbildung in sich trägt. Ich hoffe, dass der Vortrag zu einer lebhaften Diskussion anregt!