Das (Un-)Wesen psychischer Krankheiten
Sektion V
Chair: Hans Schindler
Datum: Freitag, 14. Oktober 2016
Uhrzeit: 16:30 – 18:30 Uhr
Impulsvortrag I: Über den aktuellen Zerfall von Krankheitskonstruktionen und dem phänomenalen Nutzen der Konstruktionslücke
Volkmar Aderhold
Abstract
Psychische Erkrankungen und ihre diagnostischen Einteilungen sind fach-gesellschaftliche Konstruktionen. Problematische Aspekte sind: Dimensionalen Verteilung der Phänomene mit willkürlicher Grenzziehung bei den Diagnosen. Clustern von Phänomenen (Symptomen). Ursachen, Kontext, kulturellen Faktoren, interaktionelle Faktoren bleiben unberücksichtigt. Trotz verbesserte Zuverlässigkeit (Reliabilität) und internationale Vergleichbarkeit von Diagnosen (ICD 10 und DSM IV) hohe „Komorbidität“ und häufige Diagnosenwechsel bei der alltäglichen Diagnosestellung, ausgeprägte Beobachterabhängigkeit. Fortbestehende Heterogenität und erhebliche Verlaufsunterschiede innerhalb der Syndrome. Individuelle Prognosen sind nicht möglich. Kaum Validität (Gültigkeit/Sinnhaftigkeit) der diagnostischen Konstrukte, anlog einer Einteilung unterschiedlicher Formen des Brustschmerzes in Krankheitsdiagnosen ohne Ursachenzuordnung.
Ätiologieunabhängigkeit der Diagnosen, die eine „Biologisierung“ und „Genetisierung“ der impliziten Krankheitstheorien fördert und damit primär medikamentösen Behandlungen Vorschub leistet. Misslingen einer Zuordnung von biologischen Phänomenen (Biomarkern) zur Absicherung von Diagnosen. Genetische und neurobiologische Befunde treffen entweder auf mehrere diagnostische Kategorien oder nur auf Subsyndrome zu. Somatische/neurobiologische Korrelate, sofern solche überhaupt existieren, können die Kausalitätsfrage nicht beantworten. Keine kausale (Er-)Klärung der Krankheitsentstehung in Einzelfall. Keine echten, therapierelevanten Fortschritte in der Genetik bis heute.
Das Ausmaß der Stigmatisierung psychischer „Erkrankungen“ wurde durch ihre Biologisierung nicht vermindert. Biologischer Erklärungsmodelle scheinen sogar die soziale Stigmatisierung zu erhöhen. Große historische Veränderungen der diagnostischen Kategorien und Kriterien innerhalb der Cluster. Definition diagnostischer Cluster nur selten aufgrund von wissenschaftlicher Evidenz, sondern oft interessengeleitet. Entscheidungen der Gremien durch Mehrheitsabstimmungen. Erhebliche Zuwendungen der Pharmaindustrie für diese „Experten“. Viele diagnostische Cluster dienen den Vermarktungsinteressen der Pharmaindustrie. Syndrome werden so definiert, dass sie spezifischen pharmakologischen Interventionen zugänglich werden, dazu „verführen“. Das DSM V wurde gleich nach dem Erscheinen von dem Direktor des NIMH T. Insel als ein Sammelsurium von Symptombeschreibungen, die nicht valide sind, zurückgewiesen. Ein neues Diagnosesystem ist nicht in Sicht. Lediglich für die Grundlagenwissenschaft wurde ein neues Ordnungssystem mit sehr basalen sog. Research domain Criteria (RDoC) entwickelt. Dieses System ist vollkommen unbeeinflusst von bestehenden diagnostischen Kategorien, sondern geht von den funktionellen neuronalen Teilsystemen des gesunden Gehirns aus. Es geht dabei um eine fundamentale Rekonzeptualisierung der Psychiatrie, aus neurobiologischer Sicht. Dies wird viele Jahre bis Jahrzehnte dauern. Sofern es überhaupt gelingt. Das Gebäude psychischer Erkrankungen wird also nur noch notdürftig von einem Gerüst aus diagnostischen und pharmakologischen Gewohnheiten zusammengehalten.
Die Darstellung der Dekonstruktion von „invaliden“ Krankheitskonstruktionen soll ermutigen. Dieser Diagnostik sollte man unverfroren(er) gegenübertreten. Auch im Bereich psycho-sozial-spirituellen Verstehens besteht das gleiche Recht auf Neuentwicklung von diagnostischen Verstehensansätzen. Dabei wären die Kontext-, Beobachter- und interaktionelle Abhängigkeit psychischer Phänomene konsequent zu berücksichtigen.
- Beschreibung der erlebten Phänomene (evtl. Zuordnung zu den RDoC)
- Kontextualisierung dieser Phänomene
- Selbstlimitierung von episodischen Phänomenen erfassen
- Rekonstruktion von bedeutsamen Lebensereignisse, Lebensbedingungen
- Diskurs der wichtigen Bezugspersonen dazu, wenn möglich
- Recht auf Selbstbeschreibung der Veränderung bzw. Krise durch den Betroffenen
- Erfassung von Ressourcen
Impulsvortrag II: Das Prinzip der funktionalen Analyse und ihr diagnostischer Nutzen
Roland Schleiffer
Abstract
„Diagnostik hat im systemischen Feld offenkundig keinen guten Ruf“ (Levold 2014). Ihr Ruf dürfte sich noch weiter verschlechtern, wird doch der diagnostische Nutzen des geläufigen syndromalen Ansatzes bei den psychiatrischen Klassifikationsbemühungen á la ICD bzw. DSM selbst in der psychiatrischen Community zunehmend bezweifelt. Sein Nutzen für SystemtherapeutInnen dürfte sich vollends auf die eher unbeliebte, nichtsdestotrotz wichtige, weil geldwerte, Sicherung eines Zugangs zum Medizinsystem beschränken.
Als eine Möglichkeit, den handlungsanleitenden Nutzen diagnostischer Bemühungen sicherzustellen, soll das Konzept der funktionalen Analyse vorgestellt werden. In der systemtheoretisch inspirierten Annahme, dass jedem Verhalten und damit auch dem psychopathologisch relevanten Verhalten die Funktion zugeschrieben werden kann, die Integrität und Kohärenz der durch störende somatische und/oder soziale Kontextbedingungen gefährdeten Psyche aufrechtzuerhalten, geht es bei der funktionalen Analyse darum, das Problem zu benennen, für das das auffällige und nicht selten auch störende Verhalten als Problemlösung in Frage kommt. Insofern lässt sich auch dieses Verhalten als sinnhaft und kontingent, d.h. als auch anders möglich verstehen. Gelingt eine plausible funktionale Analyse, lässt sich nach funktional äquivalenten Problemlösungswegen Ausschau halten, d.h. nach Verhaltensmöglichkeiten, denen die gleiche Funktion zukommt, die aber mit weniger Nachteilen für die Person und ihre Umwelt verbunden sind. Eine funktionale Analyse, welche auf die aktuellen Ergebnisse der klinischen wie auch (entwicklungs)psychopathologischen Forschung zurückgreift, bietet somit einen umfassenden, wissenschaftlich begründeten Rahmen für (psycho)therapeutische wie auch für präventive Interventionen.
Impulsvortrag III: Wie kann Psychiatrie SYMPAtischer werden? – Systemkompetenz in der Psychiatrie
Cornelia Oestereich
Abstract
Eine allgemeinpsychiatrische Klinik mit Pflichtversorgung, deren Chefärztin Dr. C. Oestereich ist, beteiligte sich 2002 bis 2006 an einem praxisorientierten Forschungsprogarmm Systemische Methoden der Psychiatrischen Akutversorgung – SYMPA (Med. Psychologie Uni Heidelberg). Multiprofessionelle Teams der beteiligten Kliniken wurden systemisch geschult. Systemische Methoden wie systemische Ziel- und Auftragsklärung, Genogrammarbeit, systemische Familiengespräche, Kooperationskonferenzen, systemische Fallbesprechungen, systemische Familiengespräche, Reflecting Team und eine systemische Verhandlungskultur über die Behandlung wurden im akutpsychiatrischen Alltag implementiert und ein SYMPA-Handbuch erstellt. Jährliche multiprofessionelle Inhouse-Schulungen in systemischer Beratung sichern die Nachhaltigkeit des Systemischen Denkens und Handelns in der psychiatrischen Arbeit und haben zu deutlichen Haltungsänderungen geführt.
Diese Qualifizierungsmaßnahme mit einer veränderten Verhandlungs- und Kommunikationskultur sowie einer systemischen Ziel- und Auftragsklärung psychiatrischer Akutbehandlung ermöglichten ein neues Verständnis für die Sinnhaftigkeit psychiatrischer Symptome und für die Funktion von Psychiatrie als Ort des Moratoriums in Krisen, bevor neue Lösungen gefunden werden und neue Wege beschritten werden können. Diese Haltung kommt den PatientInnen aller Kulturen ebenso wie den Angehörigen zugute. – Auch die MitarbeiterInnen profitieren. Follow-Up-Studien nach Beendigung des Forschungsprojektes zeigen einen eindrucksvollen Rückgang von Depersonalisationserleben und Resignation bei den Mitarbeitern. Teamkonflikte gingen zurück. Das Gefühl von Anerkennung für die eigene Arbeit und die gleichberechtigtere Zusammenarbeit unter den Berufsgruppen verstärkte sich. In einem solchen Klima gelingt eine respektvolle psychiatrische Arbeit mit den PatientInnen, ihren Angehörigen und dem komplexen Behandlungs- und Versorgungssystem besser.